Aus Minder- und Höchstleistung machen.

Ein Praxisbericht, der mit faulen Äpfeln und Teppichklebern hadert.

31.10.2025

Nach meinem Gespräch mit dem Geschäftsführer war ich erschüttert. Nicht wegen ihm, sondern wegen der unglaublichen Widerstandsfähigkeit von Mustern in Organisationen. 

Das wird hier keine meiner Erfolgsstories. Ich bin frustriert, dass ich nicht mehr Wirkung erzeuge. Und gleichzeitig bin ich demütig, dass Veränderungen in Organisationen mit starken und alten Kulturmustern gefühlt unendlich dauern. 

Was war geschehen? 

Ich begleite diesen Geschäftsführer schon länger. Wir hatten bereits mehrere systemtheoretische Aha-Momente. Geübt, dass Kontext Verhalten stärker prägt als Persönlichkeit. Dass Menschen nicht das Problem sind, sondern das System, in dem sie feststecken. 

Die Organisation hat circa 400 Mitarbeiter und ist durch ihr Marktumfeld behördlich geprägt. Viel Regulation. Sehr prozessgetrieben. Und vor allem: ein sehr starker Arbeitnehmerschutz. Viele Mitarbeitende sind schon sehr lange dabei und quasi unkündbar. 

Gleichzeitig steigt der Markt- und Wettbewerbsdruck. Die Organisation muss Kosten sparen, kundenorientierter und dynamischer werden. 

Die Transformation läuft seit über einem Jahr. Mit mäßiger Wirkung. Das System wehrt sich mit Händen und Füßen. 

Und wie so viele Organisationen leidet sie unter einem Muster: Die Probleme der Organisation werden vermenschlicht. 

Was heißt das? Statt zu fragen "Welche Strukturen, Anreize und Spielregeln führen dazu, dass Menschen sich so verhalten?", wird gefragt: "Wer ist schuld?" 

Das führt zu Appellen. Zu abstrakten Forderungen. Zu Bitten. Die natürlich wenig am Verhalten ändern. 

Hier verbunden mit einer strukturellen Ohnmacht: Die Organisation hat fast keine formalen Hebel, um nicht wertschöpfendes Verhalten zu ahnden. Ein starker Betriebsrat und die Arbeitsverträge machen es fast unmöglich, Menschen zu kündigen. 

Was machen viele Organisationen dann? 

In der Tradition der Problemvermenschlichung wird jetzt die nächste Sau durchs Dorf getrieben. 

Minderleister sollen identifiziert und zu Höchstleistern verändert werden. 

Die Bereichsleiter haben sich zusammengesetzt und eine Liste von Minderleistern aufgestellt. Und logischerweise einen behördlich kühlen Prozess erarbeitet, um Minder- in Höchstleistung zu verwandeln. 

Alle Mitarbeiter sollen über den Prozess und das Ziel informiert werden. Kategorisiert werden. Dann individuelle Gespräche. Maßnahmen festlegen. 

Ich erspare Ihnen die Details. 

Meine Reaktion 

Meine Reaktion war harsch. Ich habe das Wort Inquisition verwendet. Und ihm gespiegelt, dass er damit das Gegenteil erreichen wird. 

Ich war unsicher, ob ich zu hart war. Ob ich hätte diplomatischer sein müssen. 

Aber ich konnte nicht anders. Der potenzielle Schaden, den dieser Ansatz anrichten würde, war zu groß. 

Was sind die Konsequenzen? 

Der Fokus auf Minderleistung statt auf Höchstleistung wird Minderleistung fördern. Auch Pygmalion-Effekt genannt: Man bekommt das, worauf man sich konzentriert und ausrichtet. 

Wer Motorrad oder Auto fährt, kann das sehr einfach testen. Wo man hinschaut, fährt man auch. Daher niemals bei einer Vollbremsung auf das letzte Auto im Stau schauen, sondern auf die Lücke. 

Und wie werden die Mitarbeitenden wohl reagieren, wenn sie erfahren, dass jetzt Minderleister identifiziert werden sollen? 

Freeze. Zynismus. Höchste Vorsicht. Niemand übernimmt mehr Risiko und Verantwortung. Niemand lehnt sich aus dem Fenster. 

Das Gegenteil von Höchstleistung. 

Die Vermutung ist berechtigt, dass ein Teufelskreis seinen Lauf nimmt. Menschen, die der Minderleistung verdächtigt werden, verhalten sich irgendwann auch so. Was die Verdächtigung bestätigt. Und wieder von vorne. 

Die grundlegende Frage.

Ein Satz des Geschäftsführers blieb mir gut in Erinnerung: "Wir haben so viele Querulanten hier." 

Nach meiner Erfahrung sind die allermeisten Menschen keine bösen Menschen. Wenn man sie fragt, ob sie auf Gossip, Behördentum, Verschwendung oder schlechten Kundenservice stehen – was werden die allermeisten glaubhaft sagen? Nein. 

Das Faszinierende ist, dass Menschen sich auf sozialen Spielfeldern oft gegensätzlich zu ihren persönlichen Werten verhalten. 

Ich setze daher immer eine Unschuldsvermutung. Und meine unangenehme Frage an den Geschäftsführer lautet: Warum macht es bei euch Sinn, keine Höchstleistung zu erbringen? 

Es gibt in jeder Organisation eh nur sehr wenige Höchstleister. Und noch sehr viel weniger echte faule Äpfel. Der Großteil ist weder noch. Macht einen guten Dienst nach Vorschrift. Nach den Spielregeln der Organisation. 

Was ich ihm gespiegelt habe.

Ich habe dem Geschäftsführer fünf Dinge gesagt, die er tun sollte. Nicht als Prozess, sondern als Denkweise. 

1. Das wichtigste Führungsprinzip anwenden 

Verhalten von Persönlichkeit trennen. 

Verhält sich die Person so, obwohl sie will? Dann ist die Frage, ob Skills fehlen oder welche organisatorischen Strukturen und kulturellen Spielregeln die Person von guter Leistung abhalten. Hier kann gemeinsam an besserer Leistung gearbeitet werden. 

Verhält sich die Person so, weil sie nicht will? Wenn diese Vermutung da ist, muss das von der Führungskraft im Dialog angesprochen werden, um die Vermutung zu validieren oder – hoffentlich – zu falsifizieren. 

Das war für den Geschäftsführer der größte Aha-Moment. Diese Trennung. Nicht die Person ist das Problem. Das Verhalten ist das Problem. Und Verhalten hat Gründe. 

2. Begriffe sauber definieren 

Viele Begriffe sind sogenannte Container- oder Flutschbegriffe. Die grobe Bedeutung ist klar. Die genaue Ausprägung aber nicht. Das ist normal und nötig, um im Alltag kommunizieren zu können. 

Aber wenn es um weitreichende Entscheidungen geht, ist eine synchrone und saubere Definition zentraler Begriffe notwendig. 

Wie Strategie, Führung, Leadership, Agil, Kultur und – in diesem Falle – Minder- und Höchstleistung. 

Das Führungsteam sollte sich also diese Fragen stellen. Im besten Falle erst einzeln beantworten und dann gegenüberstellen. Dann wird allen klar, wie unterschiedlich sie Begriffe verstehen. 

  • Welches Verhalten ist beobachtbar, damit alle von Minderleistung sprechen? 

  • Welches Verhalten ist beobachtbar, damit alle von Höchstleistung sprechen? 


3. Faule Äpfel aussortieren 

Hier wird es heikel. Und ich gebe zu: widersprüchlich. 

Leider haben destruktive Muster größeren Einfluss auf die Mitte als positive. Die faulen Äpfel haben mehr Einfluss als die Höchstleister. Wie heißt es so schön: Es braucht viele Menschen, um ein Haus zu bauen. Und nur einen, um es einzureißen. 

Also war meine Frage an den Geschäftsführer: Gibt es in Ihrem Team wirklich einen echten faulen Apfel? Jemanden, bei dem Sie bewusst destruktives Verhalten beobachtet haben? Bei dem Sie sich wirklich, wirklich sicher sind, so ein hartes Urteil zu fällen? 

Ich bin mir bewusst, dass ich mich hier auf dünnes, widersprüchliches Eis begebe. Schließlich habe ich gerade noch geschrieben, dass Kontext Verhalten sehr stark prägt und ich eine Unschuldsvermutung ansetze. 

Aber ich glaube trotzdem: Es gibt Menschen, die sich aufgrund ihrer Persönlichkeit destruktiv verhalten. Nicht weil die Organisation sie dazu bringt. Sondern weil andere Kontexte in ihrer Psyche stärker wirken als die der Organisation. Familie. Trauma. Persönlichkeitsmuster, die tief sitzen. 

Für diese privaten und persönlichen Kontexte und Muster ist die Organisation aber nicht verantwortlich. Und sie kann sie auch nicht ändern. 

Also kann ich, nach sorgfältiger Prüfung und Überlegung, akzeptieren, dass es faule Äpfel geben kann. Selten. Aber es gibt sie. 

In diesem Falle war das so. Der Geschäftsführer sagte, dass es eine Person gäbe, bei der er sich sicher sei. 

Meine Empfehlung ist dann klar: Den faulen Apfel sofort aus dem System entfernen. Koste es, was es wolle. 

Sofort freistellen und ein faires Abfindungsangebot machen. Sollte es nicht angenommen werden, alle formal sauberen Maßnahmen nutzen, um Konsequenzen spürbar zu machen. Nicht mobben. Aber klar sein: Diese Person passt nicht in diese Organisation. Und muss raus. 

Klingt hart, ich weiß. Aber manchmal ist sehr konsequentes Verhalten nötig, um die Organisation zu schützen. 

4. Beobachten und lernen 

Wie reagiert das System? Wie reagiert das Team? 

Ich habe es selbst in einem Team beobachtet, das ich geführt habe: Wie sich das Verhalten von Menschen durch eine große Irritation innerhalb von Stunden geändert hat. 

Es gibt für sowas keine Garantie. Deswegen ist sorgsame Beobachtung so wichtig. 

Worauf achten? 

Verändert sich die Stimmung? Wird offener gesprochen? Übernehmen Menschen mehr Verantwortung? Oder zieht sich das Team zurück? 

Es kann sein, dass die Mitte ihr Verhalten ändert. Es kann aber auch sein, dass nichts passiert. Oder dass es schlimmer wird. 

Man weiß es nicht. Es gibt keine Garantie. Im besten Falle teilen die Führungskräfte ihre Beobachtungen mit ihren Teams und reflektieren gemeinsam die Veränderungen. 

5. Höchstleistung fördern 

Das fördern, von dem man mehr will. Nicht das betonen, was man vermeiden will. 

Zwei Stränge machen hier Sinn: 

Höchstleister identifizieren und fördern. 

Höchstleister arbeiten am liebsten mit anderen Höchstleistern zusammen. In einer Organisation, wo Höchstleistung nicht die Norm ist, werden sie oft demotiviert und empfinden ein Gefühl von Ungerechtigkeit. 

Hier eine Aussage eines Höchstleisters dieser Organisation: "Warum soll ich mich anstrengen, wenn die anderen genauso viel Geld bekommen wie ich und meine Karrierewege begrenzt sind?" 

Das ist verständlich. Und gefährlich. Denn wenn die Höchstleister aufgeben, gibt die Organisation auf. 

Was kann man tun? 

Den Höchstleistern klarmachen, dass sie gesehen und wertgeschätzt werden. Sie um Hilfe bitten, Höchstleistung zu fördern. Besonders auf der Hinterbühne. Ihnen im Rahmen der Möglichkeiten helfen, Autonomie, Meisterschaft und Sinn zu empfinden. 

Höchstleistung identifizieren, feiern und teilen. 

Die Führungskräfte suchen aktiv in ihren Teams nach Höchstleistung. Auch und besonders im Kleinen und Alltäglichen. Wenn sie erkannt ist, wird sie gewürdigt und anderen als Inspiration vorgestellt. 

Ein Beispiel: "Wir haben im letzten Team-Meeting besprochen, dass wir unsere Kundenerreichbarkeit um eine Stunde pro Tag erhöhen. Ihr habt die Schichten selbst untereinander aufgeteilt und wir waren nach zwei Tagen besser für unsere Kunden erreichbar. Das freut mich sehr. Ich habe für alle heute Mittag Pizza bestellt." 

Nicht als großes Programm. Sondern als Aufmerksamkeit. Als Haltung. 

Und was macht die Organisation jetzt? 

Der Geschäftsführer war sehr nachdenklich nach unserem Gespräch. 

Seine Intention ist sauber. Aber das System hat durch ihn gesprochen. Durch meine Enttabuisierung konnte er das ohne Reue oder Beschuldigungen erkennen, durchdenken und anpassen. 

Sein nächster Schritt wird sein, dass er sich mit seinen Führungskräften hinsetzt und für die Organisation definiert, was Minder- und Höchstleistung genau bedeuten. 

Sein persönlicher größter Takeaway war die Trennung zwischen Verhalten und Persönlichkeit. 

Was bei mir bleibt.

Als ich das Gespräch Revue passieren ließ, stellte ich fest: Ich war wirksam. Vielleicht nicht so, wie ich es mir wünsche. Nicht sofort. Nicht dramatisch. 

Aber in kleinen, kontinuierlichen, nachhaltigen Erkenntnisschritten. 

Ich bin dankbar, dass ich systemtheoretisch denke. Dass ich den Geschäftsführer nicht verurteilt habe. Dass ich nicht gesagt habe: "Du bist das Problem." 

Sondern: "Das System spricht durch dich." 

Das hat ihm den Raum gegeben, zu denken. Zu zweifeln. Anzupassen. 

Und ich bin demütig vor der Macht sozialer Kontexte und Muster. Vor der Zähigkeit, mit der Organisationen an ihren Spielregeln festhalten. Vor der Langsamkeit, mit der Veränderung geschieht. 

Soziale Systeme sind wie Teppichkleber, den man entfernen will. Man zieht und kratzt. Und hat das Gefühl, das wird nie fertig. Aber manchmal löst sich ein Stück. 

Und das reicht. Für heute. 

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