Wir fahren uns gegenseitig fest, ohne es zu merken.

Warum da niemand schuld ist und wie man das ändern kann.

29.11.2025

Ich habe die Sitzungen und Meetings einer Organisation eine ganze Woche lang beobachtet. Erst dachte ich, dass die Investition in mich Verschwendung sei. Aber die Rückmeldung der Geschäftsführung war eindeutig:

“Wir haben am Anfang in Meetings probiert, uns anders zu verhalten. Aber nach fünf Minuten hatten wir Marcel vergessen und unser bekanntes Spiel gespielt. Die direkte Rückmeldung von Marcel danach war unglaublich direkt und wertvoll.”

Warum?

Weil alle sozialen Systeme und Organisationen irgendwann ihr Spiel spielen. Die Spielregeln hat aber niemand entschieden und kennt auch keiner. Sie sind einfach so entstanden. Und sie sind mächtig.

Und gestandene, selbstbewusste, intelligente und reflektierte Menschen spielen das Spiel. Völlig selbstverständlich.

Und das Erstaunlichste ist, dass das Spiel weitergespielt wird, auch wenn es der Wertschöpfung nicht dient.

Was geschieht da genau?

In Gruppen von Menschen entstehen unbemerkt und quasi von allein Kommunikations- und Erwartungsmuster, die großen Einfluss auf das Verhalten der Menschen haben.

Sie kennen das bestimmt. Das wöchentliche Jourfixe ist jedes Mal eine großartige Zeitverschwendung. Nichts wird entschieden, es reden immer die gleichen und es wird über alles gesprochen, nur nicht über das, was die Wertschöpfung wirklich braucht.

Das Spannende ist, dass das alle wahrnehmen. Es wird sogar ausgesprochen. Vor und nach dem Meeting in kleinen Gruppen, an der Kaffeemaschine: “Mensch, das war wieder so ein sinnloses Meeting. Wir sollten das mal ändern.”

Und was passiert nächste Woche? Genau. Die gleiche Aufführung nochmal.

Unsere (Arbeits)Welt hat ein Problem

Wir glauben sehr fest daran, dass der Mensch einen freien Willen hat und sich jederzeit hätte anders entscheiden können. So er oder sie denn nur wollte. Die meisten Managementpraktiken und auch die meisten LinkedIn-Posts bauen darauf: Das menschliche Individuum ist das Zentrum und kann frei und selbstbestimmt entscheiden.

Nur ist das ein beobachtbarer Irrtum.

Wer hat es noch nicht erlebt? Beim Kaffee holen erzählt der Kollege noch, was er für ein ehrlicher Typ ist, der immer seine Meinung sagt und sich nichts sagen lässt. Eine Stunde später im Meeting hält er aber den Mund und sagt nichts, obwohl er mit einigen Themen gar nicht einverstanden ist.

Vielleicht denken Sie jetzt: Er muss halt sein Mindset ändern und endlich mal was im Meeting sagen. Wer sich so verhält, ist keine gute Führungskraft.

Ist das wirklich so? Schaffen Sie es in allen Situationen, sich gemäß Ihren Werten und Bedürfnissen zu verhalten? Ich nicht.

Und nun?

Nehmen wir mal an, dass das Verhalten von Menschen viel stärker von den Kontexten geprägt ist, in denen wir uns bewegen. Stellen Sie sich vor, Sie würden an einem Tag Monopoly, Fußball, Schach und ein Rollenspiel spielen. In jedem Spiel würden Sie sich anders verhalten. Das hat wenig mit Ihrer Persönlichkeit zu tun. Auch wenn Sie kein Egoist sind, werden Sie sich egoistisch verhalten müssen, um Monopoly zu gewinnen.

Und ich lege noch einen drauf. Was wäre, wenn die sozialen Spiele, die wir spielen, keine Moral kennen würden? Wenn sie nicht nach gut und böse unterscheiden, sondern nur nach anschlussfähig und nicht anschlussfähig?

Dann hätte man auf einmal eine gute Erklärung, warum Menschen, die sich in privaten Kontexten verantwortungsvoll und kooperativ verhalten, in der Firma egoistisch und passiv werden.

Spielt die Persönlichkeit denn gar keine Rolle?

Natürlich. Beides stimmt gleichzeitig.

Ja, Sie haben einen “freien” Willen. Sie können Ihre Entscheidungen beeinflussen. Sie können an Ihrem Mindset arbeiten. Und es gibt Persönlichkeitsmerkmale, die jeden von uns auszeichnen.

Gleichzeitig sind wir Marionetten und Spieler in hunderten von sozialen Spielen, durch die wir jeden Tag rasant und gekonnt hin und her springen. Im Einzelgespräch mit einer Kollegin verhalten wir uns anders als im Meeting mit unserer Abteilung, anders als bei der Präsentation beim Kunden, anders als mit dem Ehepartner.

Die meisten Management-Schulen fokussieren sich auf die Persönlichkeit. Nicht auf die Spielregeln. Das ist verständlich - unsere Egos wollen der Mittelpunkt sein. Aber es funktioniert nicht.

Wie oft haben Sie erlebt, dass sich das Verhalten von Menschen durch Appellieren, Vorwürfe und Motivationsreden verändert hat?

Viele meiner Mandanten sind frustriert, warum Menschen in ihrer Organisation sich trotz emotionaler und gut gemeinter Aufforderung nicht ändern. “Sie können ganz ehrlich zu mir sein”, “Bitte bringen Sie sich mehr beim nächsten Meeting ein” oder “Seien Sie bitte motivierter und wertschätzender”.

Diese Sätze ändern wenig. Meist werden sie sogar als Vorwurf verstanden, nicht gut genug zu sein. Das führt selten zu einer Veränderungsbereitschaft. Und was genau bedeutet es, ehrlich, wertschätzend, engagiert und respektvoll zu sein?

Ich mache eine Wette, dass wir diese Begriffe teils sehr unterschiedlich definieren. Die traurige Wahrheit ist, dass Missverständnisse eher die Norm sind.

Das ist weder gut noch böse. Es ist so.

Was kann man tun?

Es ist am Anfang für viele Führungskräfte sehr kontraintuitiv, nicht über Menschen zu reden, sondern über den Kontext, das System.

Hier eine kleine praktische Übung, die ich Führungskreisen gerne empfehle. Der Kreis trifft sich, um über die Zusammenarbeit zu sprechen. Für 90 Minuten gilt nur eine Regel: Es darf nicht über Menschen gesprochen werden. Keine Namen dürfen genannt werden.

Das klingt für die meisten unmöglich. Ist es aber nicht.

Mit Übung und einer guten Moderation gelingt es. Und nach und nach wird sichtbar, was alles - außer den Menschen - die Zusammenarbeit prägt. Das ist Arbeit am System. Nicht im System.

Eine der wertvollsten und wirkmächtigsten Fähigkeiten guter Führung.

Drei Schritte

Diese drei Schritte helfen, die Wertschöpfung in den Mittelpunkt zu stellen - ohne Menschen zu beschuldigen.

1. Die unbewussten Muster erkennen

Das kann logischerweise niemand aus der Organisation. Es braucht den Blick von außen. In meinem Fall war das Format eine einwöchige Begleitung des Arbeitsalltags. Aber auch verkettete Gespräche mit Menschen aus der Organisation sind wirksame Formate.

2. Die Muster besprechbar machen

Einen Rahmen schaffen, in dem die Menschen - ohne Schuldzuweisungen - sich über die Spielregeln unterhalten können.

Beispiel: In vielen inhabergeführten Unternehmen hat sich ein höfisches Spiel rund um den Inhaber entwickelt. Mit viel Politik, Tabus, Schmeicheleien, Gossip.

Alle wissen es, keiner kann es aussprechen.

Jetzt komme ich - und dafür werde ich bezahlt - und sage: “Ihr habt hier ein höfisches Muster. Und Sie, lieber Inhaber, sind der König.”

Stille.

Und dann meistens Erleichterung. “Können wir endlich jetzt darüber sprechen?”

Im besten Fall mit einer Prise Humor. Niemand ist vor der Macht der Muster immun. Alle sind betroffen. Niemand ist schuld. Es spielt uns halt.

Das allein bewirkt meist schon die größte Veränderung.

3. Etwas strukturell ändern

Aber eben nicht die Menschen. Sondern ganz konkrete Regeln, Strukturen oder Formate.

Beispiel: Der “König” wünscht sich mehr Widerstand und kritische Rückmeldung. Statt zu appellieren, wird eine neue Regel in Meetings eingeführt: Zu jedem Thema werden ein oder zwei Runden gemacht. Jeder hat 1-2 Minuten Zeit, sich ungestört zu äußern. Alle anderen wahren ein Pokerface. Jeder darf sich aufeinander beziehen. Ein asynchroner Dialog, der allen den gleichen Raum gibt.

Und schwups: Der Geschäftsführer bekommt mehr und breitere Rückmeldung.

Die Spiegelung von Mustern ist nicht immer angenehm. Man fühlt sich ertappt. Manchmal kommt auch Schuld und Scham dazu. Das Vermenschlichungsmuster schlägt wieder zu.

Und dann passiert etwas Wunderbares. Erkennen, verstehen und annehmen. Eben ohne Schuld und Scham. Der Fokus richtet sich schnell auf: “Was können wir strukturell ändern?”

Aber Achtung

Die Muster in Organisationen sind oft wie Teppichkleber. Sehr hartnäckig. Es braucht viel Übung, Disziplin und gute Hilfsmittel, damit das System nicht in die alten Muster zurückfällt.

Hier hilft:

  • Der regelmäßige Blick von außen

  • Regelmäßige, gut moderierte Reflexionsformate

  • Konstante Auseinandersetzung mit der Systemtheorie (sie liefert das Theoriegerüst für diesen Text)

  • Menschen mit formaler Macht, die diese Perspektive übernehmen wollen


PS: Ich schenke Ihnen eine Frage, die Ihre Führung auf den Kopf stellen kann.

Fragen Sie nicht: “Warum verhält sich Peter oder Maria so?”

Fragen Sie: “Warum macht das Verhalten von Peter und Maria Sinn?”

Bringen Sie ein aktuelles Thema mit – in 30 Minuten haben Sie Klarheit, die Sie weiterbringt. Wir vereinbaren dafür einen kostenfreien Video-Call.

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